Von fern über den Wolken kommt sie. Von irgendwo,
sie weiß es nicht mehr, hat es vergessen. Sie erinnert sich nur
noch an ein sanftes Licht und wohlige Wärme und ein Gefühl
unendlicher Geborgenheit. Doch nun ist sie hier, fliegt über den
Wolken, blütenweiß rein, so wie ihre Flügel. Eine Weiße
Taube, schön wie ein Schwan, strahlend wie die Sonne. Sie hat eine
Aufgabe, sie kann nicht hier oben bleiben. Und so gleitet sie tiefer,
durchdringt die Wolken, und die Dunkelheit grüßt sie.
Ein Schauer der Hoffnungslosigkeit durchfährt sie und eine einsame
weiße Feder schwebt still und heimlich zur Erde.
Sie bemerkt es zuerst nicht, doch dann sieht sie ein kleines schwaches
Licht dort in der Tiefe brennen, ein Licht, das stärker wird und
ihr nun endlich sagt, was zu tun ist.
Sie landet in der Hand eines Vaters, der sein Kind schlägt, in
der Hand einer Mutter, die keinen Ausweg mehr weiß. Sie ruht auf
einer funkelnden Perlenkette, die wie seltsam wieder in einem Tresor
liegt.
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Sie umgibt in einem Kranz zwei Menschen,
die das Wort sagen: Ja!
Überall sind weiße Federn, an allen Orten des Dunklen, des
Neides, des Hasses, der Missgunst. An Orten der Trauer, der Verzweiflung,
der Hoffnungslosigkeit. Kleine Lichter flackern in der endlosen Dunkelheit.
Doch die Taube wird müde, ihre Flügel, so vieler Federn beraubt,
können sie kaum noch tragen. Sie gibt auf, es geht nicht mehr,
sie ist verzweifelt und doch, eines, nur eines kann sie noch tun. So
landet sie vor den traurigen Augen eines Kindes, dessen Bauch sich vor
Hunger bläht.
Und einmal, zum ersten Mal in seinem Leben, ist das Kind und seine Familie
glücklich, denn sie sind zum ersten Mal nicht hungrig. Später
wird es heißen, die Menschen aus dieser Familie würden seltsame
Worte sagen, unbekannte Worte, wie Frieden, Liebe, Güte, Gerechtigkeit
und Freiheit. Und irgendwo auf der Welt, da sammeln Vögel ein paar
weiche Federn für ihre Nester, weiße Federn, die im Dunkeln
leuchten. Und es werden kleine weiße Vögel aus den Eiern
schlüpfen, und sie werden zaghaft mit ihren weichen Flügeln
schlagen und sich in den Himmel erheben, wo Sonnenstrahlen durch die
lichter werdende Wolkendecke dringen. Und gemeinsam werden sie in einem
Schwarm fliegen, und von Ferne wird es so aussehen wie eine große,
weiße Taube.
Teile aus der Kurzgeschichte von Thomas Mende
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